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Eine kleine Geschichte über eine große Stadt und ihre stolzen Bürger.

Am Mainflusse, wenige Meilen oberhalb seiner Mündung, im Herzen Deutschlands, liegt seit allerältesten Zeiten eine große und mächtige Stadt. Ihre stolzen Bürger erkämpften sich vor vielen, vielen Jahrhunderten das Privileg, sie Freie Reichsstadt nennen zu dürfen und von ihren benachbarten Grafen, Fürsten, Königen und anderen Unterdrückern und Ausbeutern in Ruhe gelassen zu werden. Solche, die trotzdem ihr Glück versuchten, brachte man durch den Bau furchterregender Festungsanlagen oder durch die Zahlung einer kleinen Spende, dem "Goldenen Handschlag", auf andere Gedanken. Nur dem Höchsten unter ihnen, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, gelobte man Treue. Aber auch ihm lief man nicht hinterher, sondern wartete, bis er von sich aus in die Stadt kam, um sich zum König wählen oder zum Kaiser krönen zu lassen oder in seinem hiesigen Königshof Reichstage abzuhalten.

So verbrachten die Bürger dieser Stadt viele glückliche Jahrhunderte, zum Beispiel mit dem Abhalten von Oster- und Herbstmessen, dem Handel mit Waren aller Art, dem Eintauschen von Münzen fremder Länder oder damit, ihrerseits (da es die Nachbarfürsten ja nun nicht mehr durften) diejenigen auszubeuten und zu unterdrücken, die zwar auch in dieser Stadt lebten, sich aber nicht "Bürger" nennen durften (Frauen, Juden, Handwerker, Arbeiter, Tagelöhner, geflohene Leibeigene und andere Randgruppen), oder, mit noch größerer Freude, ebenjene Nachbarfürsten, die ständig Geld für gegeneinander zu führende Kriege benötigten, in die unsere große, stolze Stadt aus den beschriebenen Gründen jedoch niemals selbst hineingezogen wurde.

Den Kaiser hielt man sich immer als Freund der Stadt, was nicht schwer war, da er in einer fernen Stadt am südlichen Rand des Reiches lebte und eigentlich niemals Ärger machte. Man erlaubte sich sogar, dem Glauben beizutreten, den der Kaiser mit großem Kriegsheer als Ketzerei bekämpfte, ohne daß dies die Freundschaft getrübt hätte.

Vor bald zweihundert Jahren eroberte ein großes Volk aus dem Westen große Teile Deutschlands. Das war weniger schlimm als später allgemein behauptet, denn man kannte dieses Volk schon gut durch zahlreiche gemeinsame Geschäfte, und außerdem hatten die Eroberer recht vernünftige Ansichten über die Rechte von Bürgern gegenüber ihren Landesherren. Bedauerlich war aber, daß der Kaiser zwar immer noch Kaiser war, sich nun aber nicht mehr für das Reich, sondern nur noch für seine zusammengeheiratete Bergwelt im fernen Süden verantwortlich fühlte.

Das große Volk aus dem Westen wurde recht bald wieder aus Deutschland vertrieben, woran ein Königreich im äußersten Nordosten den größten Anteil hatte. Dieses bestand zum größten Teil aus Sümpfen und unfruchtbaren Sandböden, die zuvor kleinen, heidnischen Slawenvölkern entrissen worden waren. Dort im Nordosten gab es keine Freien Reichsstädte und auch keine Bürger, die Fürsten und Könige aus ihrer Stadt vertrieben. Stattdessen gab es dort Könige, die aus Bauernsöhnen Soldaten machten und sich von diesen die übrigen deutschen Länder zusammenerobern ließen, auch die Freien Reichsstädte.

Das traurige Ende der großen stolzen Stadt am Main kam, als der König im Nordosten einen Krieg gegen den Kaiser im Süden führte und gewann. Obwohl sich die große stolze Stadt auch diesmal wieder fein herausgehalten hatte, ließ der König aus dem Nordosten die Stadt besetzen und seinem Reich einverleiben, denn er hatte weder ihre Freundschaft zu dem gerade besiegten Kaiser vergessen noch ihre Unterstützung für gewisse revolutionäre Umtriebe achtzehn Jahre zuvor. Obendrein mußten die Bürger eine horrende Summe als Kontribution an die Besatzer zahlen, obwohl sie am Krieg doch eigentlich garnicht teilgenommen hatten. Der letzte einer sehr langen Reihe von stolzen und mächtigen Bürgermeistern erhängte sich am Türbalken seines Gartenhäuschens, ob wegen der verlorenen Freiheit oder doch eher wegen der zu zahlenden Kontribution, wurde nie bekannt.

Fortan mußten die stolzen Bürger der ehemals stolzen und mächtigen Stadtrepublik lernen, mit einem fremden Herrscher zu leben, noch dazu mit einem, der von seiner Hunderte Meilen entfernten, auf Sand und Sumpf gebauten Hauptstadt, die nicht von den Römern und noch nicht einmal von Karl dem Großen gegründet worden war, willkürlich über ihre Stadt regierte. Der König und sein rachsüchtiger Ministerpräsident hatten die bisher so stolze Stadt am Main zu einer unbedeutenden Provinzstadt degradiert und sogar die zuständige Provinzverwaltung nicht hier, sondern in der bisherigen Residenzstadt eines benachbarten und ebenfalls besetzten Kleinstaats angesiedelt.

Nach dem ersten Schock beschloß man, die Besatzerherrscher zu ignorieren. Die Bürger schmückten ihre schnell wachsende Stadt mit Prachtgebäuden wie Opernhaus, Theater, Universität und bedeutenden Museen, die sie allesamt aus eigenen Mitteln bezahlten, ohne den König des Nordostens, der sich mittlerweile Kaiser nannte, um Genehmigung oder Geld zu fragen. Im übrigen verweigerte man sich erfolgreich der Industrialisierung, was den stolzen Bürgern den Anblick von schmutzigen Fabriken und schmutzigen Arbeitern ersparte und einen frühen Fall von Suburbanisierung auslöste, da sich viele Nachbarstädte und -dörfer den Fabriken und den Arbeitern annahmen (und sich später zum Ärger vieler stolzer Bürger eingemeinden ließen). Ansonsten gewöhnte man sich allmählich daran, regiert zu werden und ging seinen Geschäften nach, nicht wirklich erkennend, daß die junge und obendrein auf Sand gebaute Hauptstadt des Nordostens ihre eigene in Größe und Bedeutung weit überholt hatte und zum Zentrum des neuen Reiches geworden war, was nicht nur an dem dort residierenden Besatzerkönig, sondern auch an der dort sehr wohl stattgefundenen Industrialiserung lag.

Jahre später führte der König des Nordostens das Reich in einen sinnlosen Krieg gegen das hundert Jahre zuvor vertriebene Volk im Westen und einige dutzend andere. Im ganzen Reich, auch in der großen Stadt am Main, war man begeistert, nicht nur, weil als Anlaß eine Familienangelegenheit des befreundeten Kaisers im Süden genannt wurde. Vielleicht hatte man außer der republikanischen Tradition und der Abneigung gegen fremde und gekrönte Herrscher auch vergessen, daß man Kriege zwar finanzieren, niemals aber selbst führen darf.

Nach der Niederlage und der Revolution kehrte sich zunächst vieles zum besseren, obwohl sich jetzt zur Verwunderung einiger stolzer Bürger jeder so ("Bürger" nämlich) nennen durfte, sogar die Frauen, die Juden und die Arbeiter. Die neuen Gesetze erlaubten es sogar, einen jüdischen Bürger zum Bürgermeister zu wählen, der die Geschicke der Stadt lange und weise zu lenken wußte. Man besann sich wieder der alten republikanischen Gesinnung, was nicht überall im Reich so geschah, vor allem nicht im Nordosten. Die Stadt kam im Reich und außerhalb zu großem Ansehen, Baumeister aus vielen Ländern hielten hier ihre Kongresse und errichteten Siedlungen in einem neuartigem Baustil, der sich aus den Lehren eines bärtigen, von der Mosel stammenden Philosophen ableitete.

Doch dies Glück währte nur kurz. In der fernen Hauptstadt des Nordostens erhielten kleine, dunkelhaarige Menschen die Macht über das Reich, die große, blonde Menschen liebten und fast alle anderen haßten, vor allem die Juden und die Anhänger des bärtigen Philosophen von der Mosel. Außerdem haßten sie auch die große, stolze Stadt am Main, nannten sie ob ihrer vielen jüdischen Bürger "Neu-Jerusalem am fränkischen Jordan" und machten sie wieder zu einer zweitrangigen Provinzstadt. Erstaunlicherweise hatten die kleinen, dunkelhaarigen Menschen auch am Main viele Anhänger, wenn auch weniger als in anderen Teilen des Reiches, zum Beispiel im Nordosten. Aber auch hier konnten viele nichtjüdische Bürger preiswert Wohnungen, Geschäfte oder Firmen erwerben, die vorher jüdischen Bürgern gehört hatten und waren darüber sehr zufrieden.

Nachdem sich die Geschichte, wie der bärtige Philosoph von der Mosel treffend vorhergesagt hatte, als Farce wiederholt hatte und auch die kleinen, dunkelhaarigen Männer einen Krieg gegen Dutzende von Ländern begonnen und verloren hatten, wurde alles anders. Die Hauptstadt des Nordostens wurde von den Heeren fremder Völker, nämlich dem des schon erwähnten im Westen, eines anderen, unendlich weit im Osten lebenden, eines Inselvolkes im fernen Nordwesten sowie dem einer Neuen Welt jenseits des Ozeans, besetzt, aufgeteilt und bald darauf eingemauert.

Auch das Reich wurde aufgeteilt und zerrissen. Die meisten der einst den kleinen, heidnischen Slawenvölkern entrissenen Sand- und Sumpfländer vereinnahmte das östliche Nachbarvolk, und die übrigen bildeten zusammen mit einigen reizvollen Mittelgebirgslandschaften ein eigenartiges kleines Reich, deren Könige Spitzbärte trugen oder nicht richtig Deutsch konnten, den bärtigen Philosophen von der Mosel und das große Volk fern im Osten verehrten und schließlich einen Zaun um ihr Reich herum bauten, nicht etwa um zu verhindern, daß Feinde hinein-, sondern vielmehr daß sie hinausgelangen können. Die Könige dieses Reiches residierten ebenfalls in der alten Hauptstadt des Nordostens, genauer gesagt in deren nichteingemauerten Osthälfte.

Westlich und südlich davon entstand ein zweites Reich, das nun keine Hauptstadt mehr hatte. Die Heere der drei westlichen Völker, die das Reich besetzt hatten und jetzt regierten, taten das von der einst stolzen, großen und mächtigen Stadt am Main aus, die nun ein großer, ausgehungerter Schutthaufen war, von deren Stolz nichts mehr zu bemerken war.

Als die Bürger des westlichen Reiches wieder einen König wählen durften, wollten die Bürger am Main, daß dieser König ihre Stadt zu seiner Hauptstadt macht. Dieses Anliegen schien erfolgversprechend, da die bisherige, auf dem Sand des Nordostens gebaute Hauptstadt eingemauert und vom Westreich abgeschnitten war und alle anderen Bewerberinnen viertrangige Provinzstädtchen waren. Die Aussicht, vielleicht bald nicht mehr aus der Fremde regiert zu werden, erfreute die Herzen der Bürger in der geschundenen Stadt am Main. In ihrer Freude entging den Bürgern, wie der erste gewählte König die Mitglieder der Volksversammlung nach und nach überredete, seine Heimatstadt, eine kleine, liebenswerte Universitätsstadt am Rhein, zur neuen Hauptstadt zu erklären. Und die Deputierten folgten des Königs Wunsch. Am Main dagegen, wo man die Konkurrenz bis zum Schluß nicht ernst genommen hatte, wußte man nach der Abstimmung nicht, was man nun mit all den Palästen, Parlaments- und Regierungsgebäuden anfangen sollte, die man schon voreilig errichtet hatte. Und alles schien wieder so wie immer in den letzten achtzig Jahren, schon wieder hatte man sich einem fremden König zu fügen.

Doch kam alles anders. Neue Herren, die auch aus der geteilten Stadt im Nordosten kamen, suchten ebenfalls ein neues Zuhause, mochten aber nicht bei dem neuen König in der kleinen Stadt am Rhein leben. Sie entschieden sich für die Stadt am Main mit ihrer großen und stolzen Geschichte. Die Bewohner der Stadt waren gerade damit beschäftigt, die wenigen Reste, die nach dem Kriege von der großen und stolzen Geschichte noch übrig waren, niederzureißen und sich besinnungslos der neuen Zeit an den Hals zu werfen. Das Symbol der Neuen Zeit übrigens waren Wagen, die ohne Pferde fahren konnten, und für genau diese Wagen wurde der Schutt beiseitegeräumt und Ruinen niedergerissen, und es erstand eine neue Stadt mit großen Parkplätzen und breiten Straßen für viele, viele Wagen ohne Pferde.

Die neuen Herren halfen beim Aufbau der neuen Stadt. Es gab ihrer schon immer sehr viele in der Stadt am Main, doch nun waren sie alle hier, auch die mächtigsten unter ihnen. Sie waren sehr mächtig, und bald stellte man fest, daß sie mächtiger waren als der neue König in der kleinen, nicht allzu weit entfernten Stadt am Rhein. Und sehr bald waren die neuen Herren nicht nur sehr mächtig, sondern auch sehr reich.

Im wesentlichen mußten die Könige am Rhein das tun, was die neuen Herren am Main wollten. Und die Könige lernten sehr viel von ihnen, zum Beispiel, daß man Kriege zwar finanzieren, niemals aber selbst führen darf oder daß es Ketzerei ist, bärtigen Philosophen von der Mosel zu glauben.

Und die neuen Herren errichteten sich eigene Paläste, immer und immer neue und vor allem immer höhere. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten wurde das Reich wieder einmal vom Main aus regiert. Doch auch dies konnte den Bürgern ihren Stolz nicht zurückgeben, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, den neuen Herren zu dienen und dabei selbst reich zu werden. Sie dachten nicht daran, den neuen Herren gegenüber für ihre Freiheit einzutreten, wie ihre Vorfahren es getan hatten. Zum ersten Mal dienten die einst so stolzen Bürger, mit Ausnahme einiger, willig einem fremden Herrn. Und nur wenige fragten sich, wer den neuen Herren eigentlich ihre große Macht gegeben hatte. Die Könige in der kleinen Stadt am Rhein mußten sich von allen Bürgern des Reichs wählen lassen. Aber über die Herren in ihren hohen Türmen am Main hatte niemand Macht, höchstens andere Herren in noch höheren Türmen. Sie konnten tun, was sie wollten, und sie taten es. Und niemand hatte den Mut, sie daran zu hindern.