1.4. Große, gewachsene Subzentren mit alter eigener städtischer Tradition

1.4.1. Gegenstand [ Seitenanfang ]

Die meisten innerstädtischen Subzentren, selbst große Stadtbezirkszentren, sind ehemalige Dorfkerne, die während des rasanten Stadtwachstums Ende des 19. Jahrhunderts von der benachbarten Großstadt vereinnahmt wurden. Andere Stadtteilzentren befinden sich in Lagen, die in dieser Zeit überhaupt erst entstanden und bis dahin unbebaute Ackerfläche waren (siehe 1.3.2). In beiden Fällen gewann das Gebiet erst mit der Einbeziehung in die schnell wachsende Großstadt städtischen Charakter.

Ein Sonderfall sind Subzentren, die schon lange vor dem Zusammenwachsen mit der Großstadt eine eigene Städtischkeit besaßen und diese bis heute auf gewisse Weise bewahrten. Diese alten Städte besitzen meist seit dem Mittelalter Stadtrecht, ein eigenes traditionelles kleines Umland[89] (gewöhnlich auf der der Kernstadt abgewandten Seite) und sind regionale Verkehrs-, Einkaufs-, Bildungs- und Arbeitsplatzschwerpunkte. Die örtliche Identität ist im Allgemeinen weit stärker ausgeprägt als in "gewöhnlichen" Stadtteilen. Dies ist außer durch die eigenständige Stadtgeschichte oft territorial-historisch begründet, etwa durch die Zugehörigkeit zu einem anderen Territorium als die Kernstadt während der deutschen Kleinstaaterei vor 1871.[90] Auch geographisch-topographische Verhältnisse können für die Abgrenzung eine Rolle spielen, etwa städtebauliche Barrieren wie Industriegebiete und Häfen oder die Lage auf dem dem Stadtzentrum gegenüberliegenden Flussufer.

Die Bewohner halten häufig bis heute an der Eigenständigkeit ihrer ehemaligen Stadt fest und fühlen sich meist nicht als Bürger der Kernstadt, sondern grenzen sich in manchen Fällen sehr bewußt von ihr ab.[91] Dies ist unabhängig davon, ob das Sub-zentrum heute noch (nur mehr administrativ, nicht geographisch-funktionell) eine eigenständige Stadt ist oder formell in die Großstadt eingemeindet wurde. Nicht selten wird die emotionale Abneigung von den Bewohnern der Kernstadt erwidert.[92]

Subzentren der beschriebenen Art sind nicht häufig. Beispiele sind Harburg, Bergedorf und Altona (Hamburg), Spandau und Köpenick (Berlin), Vegesack (Bremen), Fürth (Nürnberg), Pasing (München), Oerlikon (Zürich), Neuss (Düsseldorf), Mülheim (Köln), Schiedam (Rotterdam) sowie Offenbach und Höchst (Frankfurt). In Stadtregionen mit kleineren Kernstädten ist dieser Subzentrentyp sehr selten (z.B. Karlsruhe-Durlach oder Bonn-Bad Godesberg). Fürth, Neuss, Schiedam und Offenbach sind bis heute politisch eigenständige Stadtgemeinden. Alle anderen genannten Neben-zentren wurden bereits vor dem zweiten Weltkrieg von ihren jeweiligen Kernstädten eingemeindet. Seitdem leben sie mit dem Widerspruch zwischen dem meist ungewünschten Stadtteil-Dasein und den Vorhandensein gewisser Eigenständigkeit.

Durch den im Vergleich zu kleineren und jüngeren Subzentren höheren Anspruch an Symbole eigenständiger Zentralität wird der Verlust dieser Zentralfunktionen in großen Subzentren mit eigener städtischer Tradition als besonders schmerzhaft wahrgenommen. Die Diskussion über die Zukunft dieser Subzentren wird von den Bewohnern häufig durch eine nostalgische Verklärung der Vergangenheit erschwert. Die starke Identität und der ausgeprägte lokale Gemeinsinn[93] sind jedoch große Potentiale dieser besonderen großstädtischen Subzentren.

 

1.4.2. Beispiel: Köln-Mülheim [ Seitenanfang ]

Mülheim liegt im rechtsrheinischen Stadtgebiet von Köln, also der der Altstadt gegenüberliegenden Flußseite, wenige Kilometer stromabwärts des Stadtzentrums. Der Stadtteil geht auf die antike Hauptstadt der Ubier zurück.[94] Im Mittelalter Handelshafen, wurde Mülheim im 19. Jahrhundert zur Industriestadt (Klöckner-Humboldt-Deutz, Felten & Guillaume) und zum Eisenbahnknotenpunkt. 1914 wurde Mülheim von Köln eingemeindet. Der Stadtbezirk Mülheim ist mit etwa 145.000 Einwohner und neun Stadtteilen[95] der größte der neun Kölner Bezirke. Der Stadtteil Mülheim selbst hat 40.000 Einwohner. Mittelpunkt des Bezirks ist die Einkaufszone Wiener Platz und Frankfurter Straße.

 

Zwischen Mülheim und Köln herrscht seit Jahrhunderten Rivalität. Während in Köln-Innenstadt die rechte Rheinseite wenig ehrenvoll als "schäl Sick" bezeichnet wird, sagen die Mülheimer, sie "fahren nach Köln", wenn sie in die Kölner Innenstadt reisen.[98] Angesichts der heutigen großen Probleme des Stadtteils verweisen Lokalpatrioten auf Kölner Zusagen aus dem Eingemeindungsvertrag von 1914[99] und fordern die Abspaltung Mülheims von Köln.[100]

Die wirtschaftlichen Probleme Mülheims sind Folge von Arbeitsplatzabbau und Betriebsschließungen in der Industrie. Das rechtsrheinische Stadtgebiet Kölns war traditionell durch Industrie und Gewerbe geprägt. Durch die Deindustrialisierung gingen vor allem in den rechtsrheinischen Stadtteilen Mülheim, Deutz und Kalk zahlreiche Arbeitsplätze verloren.[101]

In den 90er Jahren sank die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten in Mülheim um 25%.[102] Die Arbeitslosenquote betrug Ende 2001 18% (Stadt Köln: 11,7%). Der Anteil der Sozialhilfeempfänger lag 2002 mit 10,3% deutlich über dem der Gesamtstadt (6,7%). Der Bevölkerungsanteil ausländischer Einwohner stieg von 1980 bis 2000 von 21,9 auf 30,2%.[103]

Im Zuge von Sparmaßnahmen erwägt die Stadt Köln derzeit die Zusammenlegung von Stadtbezirken, was zur Schließung von Bürgerämtern und Bezirksrathäusern führen würde und die Mittelpunktfunktion der Bezirkszentren weiter aushöhlen würde.[104]

Ende der 90er Jahre gelang es, auf einigen Industriebrachen Firmen aus der in Köln stark vertretenen Medien- und IT-Branche in Mülheim anzusiedeln.[105] Das nordrhein-westfälische Ministerium für Städtebau, Wohnen, Kultur erkannte Mülheim und Buchforst 2001 als "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" an.

 

1.4.3. Beispiel: München-Pasing [ Seitenanfang ]

Der Stadtbezirk Pasing-Obermenzing liegt am westlichen Rand Münchens. Pasing war bei der Eingemeindung 1938[106] die drittgrößte Stadt Oberbayerns[107] und hat heute rund 40.000 Einwohner und 21.000 Arbeitsplätze. Der Ausländeranteil liegt mit rund 14% unter dem Münchener Durchschnitt.[108] Der Stadtbezirk gilt als mittlere bis gute, stellenweise sogar sehr gute Wohnlage.[109] Administrativer Mittelpunkt des Bezirks ist das alte Pasinger Rathaus, das als einziges Bezirksrathaus in München noch nahezu alle städtischen Verwaltungsdienstleistungen anbietet.[110] Diese Sonderstellung Pasings trägt neben anderen zu einer eigenständigen Mentalität bei, die Pasing nur bedingt als Teil Münchens ansieht.

 

Pasing ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt, es liegt an der Stammstrecke, die vom Münchener Hauptbahnhof (Kopfbahnhof) gerade nach Westen führt und ist Haltepunkt für ICE-Züge. Darüber hinaus sammeln sich in Pasing die radial aus dem westlichen Umland auf München zulaufenden S-Bahn-Strecken. Im Pasinger Bahnhof halten 5 S-Bahn-Linien. Die Fahrzeit zum Hauptbahnhof beträgt etwa 12 Minuten.[113]

Das Stadtteilzentrum ist ein wichtiger Einzelhandelsstandort im Münchener Westen. Der Einkaufsbereich liegt zwischen dem Bahnhof und dem (wie in München) Marienplatz genannten Ortsmittelpunkt, in der Gleichmann-, Bäcker- und Landsberger Straße. Die Situation im Zentrum Pasing war in den vergangenen Jahren durch Schließungen und Wegzug von Geschäften gekennzeichnet. Die auch im Zentrenkonzept der Stadt München festgelegte Zentralfunktion ist zunehmend in Frage gestellt.[114] Trotz der Attraktivitätsverluste hat Pasing noch ein recht großes Einzugsgebiet, das entlang der vier in Pasing zusammenlaufenden S-Bahn-Linien große Teile des suburbanen Münchener Westens umfaßt. In Richtung Innenstadt ist der Einzugsbereich natürlicherweise eng begrenzt. Laut einer Studie des Instituts Bulwien können 284.000 Einwohner zum Einzugsgebiet gerechnet werden.[115]

 

Um als langfristig funktionsfähiges übergeordnetes Subzentrum bestehen zu können, ist laut der Studie zusätzliche Verkaufsfläche sowie eine Ergänzung der Branchenmischung erforderlich. Es wird vorgeschlagen, sowohl die ortsansässigen, mittelständischen Geschäfte zu erhalten als auch Filialisten anzusiedeln.[117]

Ein weiteres Problem im Stadtteil ist die hohe Verkehrsbelastung der über den Marienplatz führenden Landsberger Straße (Bundesstraße 2, 38.500 Kfz/Tag[118]), deren Trennwirkung die Attraktivität des Stadtteils stark mindert.


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89  Grotz/Waldhausen-Apfelbaum 2000, Seite 111. [zurück]

90  So gehörte etwa die der Hamburger Altstadt unmittelbar benachbarte Stadt Altona (1937 eingemeindet) bis 1864 zum Königreich Dänemark. [zurück]

91  Friedrich-Ebert-Stiftung 1999, Seite 35. [zurück]

92  Man denke etwa an das Image des Bezirks Spandau in Berlin oder die verächtlichen Bezeichnungen für die Stadtteile auf der "falschen" Flußseite ("Dribbdebach" in Frankfurt, "Transdanubien" in Wien). [zurück]

93  Friedrich-Ebert-Stiftung 1999, Seite 35. [zurück]

94  Die Grünen in Köln: Mülheim - Aus der Geschichte (Internetseite). [zurück]

95  Stadt Köln: Der Bezirk Mülheim (Internetseite). [zurück]

96  Karte: Autoatlas Deutschland/Europa 2000, bearbeitet. [zurück]

97  Karte: Großer Stadtplan Köln. [zurück]

98  Die Grünen in Köln: Mülheim - Aus der Geschichte (Internetseite). [zurück]

99  Kölner Stadt-Anzeiger vom 23.10.2002. [zurück]

100  koeln.de-Internetnachrichten vom 29.7.2002. [zurück]

101  Friedrich-Ebert-Stiftung 1999, Seite 23. [zurück]

102  Die Grünen in Köln: Mülheim - Fakten und Zahlen (Internetseite). [zurück]

103  Köln 2002. [zurück]

104  Kölner Stadt-Anzeiger vom 15.5.2003. [zurück]

105  Stadt Köln: Der Bezirk Mülheim (Internetseite). [zurück]

106  Stadt München, Vorstellung Stadtbezirk 21 (Internetseite). [zurück]

107  Onlineausgabe Süddeutsche Zeitung. [zurück]

108  CSU München-Pasing (Internetseite). [zurück]

109  Onlineausgabe Süddeutsche Zeitung. [zurück]

110  München, Fachgutachten Einzelhandel, 2000, Seite 10. [zurück]

111  Karte: Deutsche Generalkarte, Großblatt 8 Bayern-Süd, bearbeitet. [zurück]

112  Karte: Großer Stadtplan München. [zurück]

113  München, Fachgutachten Verkehr, 2000, Seite 8. [zurück]

114  München, Fachgutachten Einzelhandel, 2000, Seite 5. [zurück]

115  München, Fachgutachten Einzelhandel, 2000, Seite 10 f. [zurück]

116  Karte: München, Fachgutachten Einzelhandel, 2000, Seite 11, bearbeitet. [zurück]

117  München, Fachgutachten Einzelhandel, 2000, Seite 24. [zurück]

118  München, Fachgutachten Verkehr: Verkehrsuntersuchung, 2000, S. 12 [zurück]

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