Michas Reich | Zuhause | Frauentorstraße

Frauentorstraße

O-5300 Weimar, Frauentorstraße 17, 1.OG SF

3. Oktober 1992 - Januar 1993

Weimar, Frauentorstraße 17 Meine erste eigene Wohnung war keine wirkliche Erfolgsgeschichte. Riesig groß, aber völlig unbrauchbar. Ein 200 Jahre altes Haus direkt am Frauenplan, einem der wichtigsten Plätze der Altstadt. Drei Häuser weiter südlich lag das bekannteste Gebäude der Stadt, das ehemalige Wohnhaus eines anderen Frankfurters, Herrn Goethe nämlich. Von vorne sah alles ganz toll aus. Leider wohnte ich nicht vorne, sondern hinten, in einem engen Seitenflügel. Die Wohnung umfaßte drei große und zwei kleine Räume, alle hintereinander, wie in der Eisenbahn. Kein Flur. Sechs riesige Fenster nach Süden, und doch schien nie ein Sonnenstrahl ein diese Räume, denn der gegenüberliegende Seitenflügel war nur etwa fünf Meter entfernt. Wenn ich wissen wollte, wie das Wetter ist, mußte ich das Fenster aufmachen und meinen Hals nach oben recken, um einen kleinen Ausschnitt Himmel zu sehen.

Bei Regen konnte ich mir die Mühe sparen, denn erstens prasselte dieser dann laut auf die Müllberge im Hof und zweitens waren leider die Fenster genauso undicht wie die Wand, so daß sich an dieser dann kleine Wasserfälle bildeten. Meine schönen, großen, gemäß Weimarer Tradition einfach verglasten Fenster ließen mich über die Außentemperatur nie im unklaren, ebenso wie die beiden kleinen typisch weimarischen "Dauerbrand"-Öfen, die nicht zogen. Selbst wenn ich damals schon gewußt hätte, wie man mit Kohleöfen Wohnungen warmbekommt, hätte es mir wenig geholfen, wie nette Mitmenschen mit mehr Ahnung feststellen mußten.

Diese netten Mitmenschen waren nur selten bei mir, denn die Wohnung hatte keine funktionierende Klingel, selbstverständlich auch kein Telefon und lag zum schon beschriebenen und von außen unzugänglichen Hof hin. Die Haustür war so lange offen, wie der Jeansladen im Erdgeschoß geöffnet hatte, und dieser hatte so lange offen, wie Geschäfte in der Weimarer Innenstadt eben offen hatten: bis 18 Uhr. Danach wurde abgeschlossen. Keine Macht dieser Welt, außer den anderen Hausbewohnern, hätte danach eine Chance gehabt, mich zu erreichen. Sicherlich keine der erwähnten netten Mitmenschen jedenfalls.

Die Hausbewohner bestanden außer mir aus einem recht netten, aber selten sichtbaren Vater mit seiner jugendlichen Tochter sowie einer reichlich mißtrauisch gesinnten Familie. Diese nutzte illegal die über meiner liegende, leerstehende Wohnung, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, hätten sie nicht in dieser (ungeheizten) Wohnung die Wasserleitung in Betrieb genommen und dann vergessen. Irgendwann um Silvester 1992/93 platzte dieselbe und ließ tagelang Wasser aus- und durch meine Wohnung hindurch in den darunterliegenden Laden strömen. Die Lehmdecke weichte auf und stürzte ein. Alles, was ich in der Wohnung hatte, wurde erst durchweicht und dann unter einer Schlammschicht begraben. Irgendjemand alarmierte die Hausverwaltung, einen aus der örtlichen KWV hervorgegangenen, korrupten Klüngelbetrieb. Diese brach die Wohnung auf, ließ jeden, der wollte, und insbesondere die netten Verursacher durchlaufen und baute ein neues Schloß ein. Den dazugehörigen Schlüssel gab man den besagten netten Nachbarn. Die Hausverwaltung beschuldigte nicht etwa diese, sondern mich für alle Schäden, weil ich es gewagt hatte, für zwei Wochen die Wohnung zu verlassen.

Glücklicherweise war zufällig mein ansonsten in Spanien lebender Hauptmieter in der Stadt und konnte dank persönlicher Bekanntschaften innerhalb der Wohnungsverwaltung eine neue Wohnung ergattern, in die ich dann zuerst einzog: im Norden der Innenstadt in der Röhrstraße.